Bouncing forward – Wie Erkenntnisse aus der Resilienzforschung in der Corona-Krise helfen können (2024)

von Florian Roth /

Die COVID19-Pandemie hat massive Auswirkungen auf unsere globalisierten Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme. Um zu verstehen, wie sich die negativen Folgen disruptiver Ereignisse auf komplexe sozio-technische Systeme, beispielsweise Infrastrukturnetze oder Wertschöpfungssysteme, mindern lassen und wie langfristig erfolgreiche Anpassungsstrategien aussehen können, nutzen Forschende am Fraunhofer ISI das Konzept der Resilienz. Florian Roth vom Competence Center Politik und Gesellschaft beschäftigt sich mit der Frage, wie systemische Resilienz gefördert und dadurch Transformationsprozesse gemeistert werden können.

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Hintergrund: Was bedeutet Resilienz?

Im Wortsinn bedeutet Resilienz die Fähigkeit »zurückzuspringen«, das heißt nach Belastungen oder Störungen in das Ausgangsstadium zurückzukehren. In der Physik und den Ingenieurswissenschaften ist Resilienz seit langem ein feststehendes Maß, um die Widerstandsfähigkeit von Materialien und Strukturen zu bewerten. Doch wir können Resilienz-Konzepte auch nutzen, um ganze Systeme und deren Verhalten gegenüber Schocks und Störungen zu analysieren.

Kurz gesagt, je schneller das betroffene System seine normale Funktionsweise zurückerlangt, desto resilienter ist es. In der Resilienz-Forschung sprechen wir von der Fähigkeit zum bounce back.

Status Quo: Resilienz und die Corona-Krise

Jeden Tag erreichen uns neue Nachrichten über die Auswirkungen der COVID19-Pandemie und die mannigfaltigen Maßnahmen, um die schlimmsten Folgen abzufedern. In vielen Ländern arbeiten die Gesundheitssysteme am Limit, Volkswirtschaften geraten ins Wanken und auch der soziale Zusammenhalt steht vor einer enormen Bewährungsprobe.

Um zu verstehen, warum das Krisenmanagement im Umgang mit COVID19 mancherorts so machtlos erscheint, während in anderen Bereichen die Auswirkungen erstaunlich gering sind oder die Krise sogar neue Chancen bietet, kann uns das Konzept der Resilienz helfen. Als Teil der Fraunhofer-ISI-Forschung zu technologischen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen beschäftigen wir uns aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Resilienz komplexer sozio-technischer Systeme.

Darum macht Resilienz Systeme leistungsfähiger und langlebiger

Aufbauend auf dem Resilienzbegriff im Sinne des bounce back halte ich persönlich den bounce forward als erweiterten Resilienzbegriff für noch interessanter. Hier steht die Fähigkeit im Zentrum, langfristig zu überleben und zu prosperieren. Ziel ist entsprechend nicht notwendigerweise die Rückkehr in den Systemzustand vor einem Schockereignis, sondern eine kontinuierliche Anpassung unter sich verändernden Umweltbedingungen. Durch diese Anpassung an neue Bedingungen wird der bounce forward möglich, bei dem das System nach einer Krise leistungsfähiger und langlebiger ist als davor.

Dieser erweiterte Resilienz-Ansatz ist eng verbunden mit der Forschung des großartigen, jüngst verstorbenen kanadischen Ökologen C.S. Holling. Hollings Aufsatz aus dem Jahr 1973 über die Anpassungsfähigkeit von komplexen Umweltsystemen war seinerzeit bahnbrechend und ist auch heute noch sehr lesenswert. Das von Holling und weiteren Wissenschaftlern entwickelte breite Resilienzverständnis eröffnet uns bis heute spannende Zugänge zu wichtigen gesellschaftlichen Fragestellungen, von der Individualebene bis hin zu globalen Governance-Problemen.

In meiner Forschung habe ich gemeinsam mit meinem Team untersucht, wie immer mehr Regierungen und internationale Organisationen wie das Büro für Katastrophenvorsorge der Vereinten Nationen Resilienzansätze nutzen, um im Umgang mit den Folgen von Klimawandel, dem Verlust von Biodiversität sowie anderen globalen Risiken Maßnahmen zu planen und Fortschritte zu überwachen.

Was muss die Politik tun, um Wirtschaft und Gesellschaft resilienter zu machen?

Auch wenn es ein sehr vielfältiges Konzept darstellt, ist es in der Praxis häufig mit Schwierigkeiten verbunden, Resilienz zielgenau aufzubauen. Denn eine der Grundannahmen der Resilienzforschung ist, dass man in komplexen Systemzusammenhängen nie alle möglichen Schockszenarien vorhersehen kann. Stattdessen geht es im Kern um die Vorhaltung von zentralen Fähigkeiten sowie kritischen Ressourcen.

Um einen möglichst schnellen »bounce back« nach einer Krise zu ermöglichen, kann die Politik frühzeitig die Robustheit der bestehenden Strukturen fördern, beispielsweise lässt sich die Widerstandsfähigkeit von Infrastrukturen gegenüber Naturgefahren steigern durch regulatorische Vorgaben. Auch Redundanzen sind wichtig, stehen in der Praxis jedoch häufig im Widerspruch zum Effizienzprimat in Wirtschaft und Politik. Schließlich zeigt sich die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Resilienzsteigerung erst dann, wenn es tatsächlich zu einer Krise kommt.

Nicht zuletzt geht es um die Stärkung der systemischen Anpassungsfähigkeit durch eine aktive Förderung dezentraler Organisations- und Beteiligungsformen. So arbeiten Forschende des Fraunhofer ISI im Projekt SONNET daran, in der Gesellschaft vorhandene Ressourcen und Wissensbestände zu nutzen und auszubauen und soziale Innovationen zu ermöglichen.

  • Geschäftsfeld: Innovation und Regulierung
  • Projekt: SONNET – Social Innovation in Energy Transitions

So kann die Resilienz-Forschung in der aktuellen COVID19-Krise helfen

Betrachten wir unsere Gesellschaft aus der Resilienz-Perspektive als komplexes sozio-technisches System wird schnell deutlich, dass für die erfolgreiche Bewältigung großer Schockereignisse wie der gegenwärtigen COVID19-Pandemie alle Beteiligten gefordert sind, von der Politik über die Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Kultur bis hin zur bis hin zur Bevölkerung, beispielsweise mittels self-tracking.

Untersuchungen aus der Katastrophenforschung haben wiederholt gezeigt, dass insbesondere die Zivilgesellschaft enorme Fähigkeiten zur Selbstorganisation besitzt und wertvolle Ressourcen zur Krisenbewältigung bereitstellen kann. Entscheidend ist dabei, dass die Bürger effektiv einbezogen werden. In Untersuchungen zur sogenannten Flüchtlingskrise konnte gezeigt werden, dass aktive Beteiligung der Bevölkerung am staatlichen Krisenmanagement durchaus gelingen kann, vorausgesetzt es werden frühzeitig Partizipationsstrukturen geschaffen.

Darüber hinaus lassen sich auf Grundlage der Resilienz-Forschung Strategien entwickeln, mit denen ein »bounce forward« gelingen kann. So könnte sich die Corona-Krise als wichtiger Katalysator für zentrale wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformationsprozesse wie die Digitalisierung und künstliche Intelligenz, den Strukturwandel in wirtschaftlich schwachen Regionen oder die Dekarbonisierung erweisen, die im Zentrum unterschiedlicher Forschungsprojekte des Fraunhofer ISI stehen.

Voraussetzung hierfür ist, dass die jetzt ergriffenen Maßnahmen nicht lediglich auf eine möglichst schnelle Wiederherstellung des status ex ante abzielen, sondern eine weitsichtige und nachhaltige Weiterentwicklung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme vorangetrieben wird.

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